La Difficulté d'être Géorgien, 1976
PAL, Ton, schwarzweiss
Le Lion, sa cage et ses ailes
Filme von Armand Gatti, die mit den Gastarbeitern aus Montbéliard gedreht wurden.
Aufnahme und Schnitt: Hélène Chatelain, Stéphane Gatti.
Zu Beginn des Jahres 1975 bittet das Kulturzentrum von Montbéliard Armand Gatti, in direkter Zusammenarbeit mit der Stadtbevölkerung einen Film zu drehen. Man stellt ihm Videogeräte und Gelder des Interventionsfonds für Kultur zur Verfügung. Armand Gatti beobachtet die Einwohner Montbéliards, einer Stadt mit der zweithöchsten Arbeiterkonzentration Frankreichs. Die meisten Arbeiter sind bei Peugeot beschäftigt. In Montbéliard leben etwa 10 000 Emigranten, die einheimische Bevölkerung beläuft sich auf 35 000 Einwohner. Armand Gatti empfindet Montbéliard als "gespaltene Stadt", eine Stadt mit Menschen, deren Lebenswege und Sprachen voneinander abweichen. Eine Stadt wie der Turm von Babel. Am Anfang heißt es: "Ein Film, Ihr Film" – in dem die von den Einwohnern einer Stadt erzählte Geschichte zur Geschichte der Einwohner wird, denen das Exil gemeinsam ist. Ein Film, der in enger Zusammenarbeit mit den Gastarbeitern gedreht wird. Als sich herausstellt, dass in Montbéliard Menschen unterschiedlichster Nationalitäten leben, schlägt Armand Gatti jeder Gemeinschaft vor, ihr eigenes Drehbuch zu verfassen und Montbéliard aus ihrer Sicht zu beschreiben. Er bietet ihnen an, ihre Worte mit Unterstützung von Hélène Chatelain und Stéphane Gatti in Bilder umzusetzen. Das verwertete Filmmaterial wird diesen Anforderungen gerecht. Armand Gatti: "[…] Es ist weder Kino noch Fernsehen , es geht vielmehr darum, eine Sprache aufleben zu lassen, was im Fernsehen nicht möglich gewesen wäre . Und ebenso wenig im Kino, denn dieses ist nicht volks- sondern elitär ausgerichtet ; du schickst deinen Film ins Labor und die Leute sehen nichts, hier hingegen sehen sie sofort , was sie gerade tun." 1 In Le Monde vom 30. Januar 1977 schreibt Catherine Humblot: "Le lion, sa cage et ses ailes ist nicht nur eine beispielhafte Form der Unterhaltung, sondern eine neue Art des Schreibens, wie bei Godard, eine Art, über Kommunikation zu sprechen und Unausgesprochenes zum Ausdruck zu bringen … "Die Gastarbeiter haben das Wort ergriffen, sie werden in der Fabrik, auf der Straße und bei sich zu Hause gefilmt. Eine Emigration, die persönliche Züge und eine Identität bekommt. Armand Gatti dreht keinen Film über die Gemeinschaft, sondern er sucht das Individuum. Der Film entgleitet der Ideologie der Siebzigerjahre, er versucht nicht, die Arbeiterklasse zu einen, er befreit sich vom Mythos der Vereinheitlichung und zeigt ganz im Gegenteil auf, dass die Aussagen über den Klassenkampf nicht unbedingt mit den Erfahrungen der Wanderarbeiter übereinstimmen. Hélène Chatelain: "[…] Das kam bei den Gastarbeitern an. Unser Ansatz war weder politisch noch strategischer Art, wir gingen sehr spontan, ganz nach existentiellen Kriterien vor. Der Wunsch, das Wort zu ergreifen, der Wunsch nach einer Identität wurde mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht. "2 Le lion, sa cage et ses ailes ist eine Art Alltags-Heldenepos in Form von Gesichtern, die einen Namen und einen Vornamen haben. Individuen, bei denen die Vergangenheit ihre Spuren hinterlassen hat (die Spuren der Geschichte, des Kriegs…). Das Video besteht insgesamt aus sechs, sich überschneidenden, zusammengelegten Filmen, einem Prolog und einem Epilog. Armand Gattis Team hat sich an die Vorschläge der jeweiligen Gemeinschaft in den Drehbüchern gehalten. Manchmal wurde aus dem Drehbuch die Geschichte des Drehbuchs. In sechs Monaten wurden 90 Stunden Videofilm aufgezeichnet. Armand Gatti verwirft seine ursprüngliche Idee, einen eineinhalbstündigen, von ihm selbst gegliederten Film zu drehen und auch ein Autorenfilm soll es nicht mehr werden. Das Team beschließt zunächst, drei Filme zu drehen, dann werden sechs daraus , schließlich sieben. Am Schluss einigt man sich darauf, einen Film pro Nationalität zu drehen. Trotz erneuten Widerstands , erhält Armand Gatti die Gelder des Sozialfonds und des kulturellen Investitionsfonds der Stadt und darüber hinaus Unterstützung des französischen Instituts für audiovisuelle Kommunikation INA. Zwei Jahre Montage im Turnus, - Stéphane Gatti tagsüber und Hélène Chatelain nachts -, waren erforderlich, um die Filme zu produzieren. Durch die Montage bekommen die acht, sich deckenden Filme, deren Bilder sich oft ändern, einen gleichmäßigen Rhythmus. Wie in Armand Gattis Theaterstücken vermischen sich in diesen Filmen historischer Kontext und imaginäre Umsetzung. Sie berichten vom Alltag versetz mit Imaginärem, das erneut kommentiert wird. Die Filme entstehen mit Hilfe von Wiederholungen und Parallelen zwischen den Gemeinschaften . In jedem Film gibt es einen Kernpunkt, die Papiere Mijailovic Radovans, Onkel Salvador und seine Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die Skulptur von Charles, die Erinnerungen Severians, der Tanz und die Farben der polnischen Gruppe, der Gesang in der Zeit des Ramadan und Gramscis Foto. Jeder Film ist Teil der Stadt Montbéliard, eine gespaltene Stadt mit vielen Gesichtern, in der die Kultur der Emigranten und die poetische Vision Armand Gattis ihre Spuren hinterlässt. Jeder Film besteht aus mehreren Filmen
1 La Nouvelle Critique, Juni-Juli 1978 (Interview von Emile Breton).
2 Jean-Paul Fargier, "Une expérience de vidéo" (Interview mit Hélène Chatelain), Cahiers du cinéma, Ausgabe 287, April 1978.
Georgischer Film: La difficulté d'être Georgien (57')
Severian [Shebarnadze], Facharbeiter, seit vierzig Jahren Lagerarbeiter bei Peugeot. Dieser Mann war Betriebswirtschaftler und Vizepräsident der Nationalen demokratischen Partei Georgiens. Die Sprache, die er spricht, sagt die Off-Stimme, geht auf die Zeit der Sumerer zurück. Dieser Mann wendet sich in Montbéliard, der Stadt der vielen Gesichter, an die Geschichte. Die georgische Fraktion lebt in der Geschichte. Der erste Teil des Films ist eine Einführung in die jeweiligen geschichtlichen Entsprechungen der Gemeinschaften. Den Georgiern werden die Portugiesen gegenübergestellt. Diese leben in ihrem Alltag. Auf die Geschichte zurückzublicken, wird nicht empfohlen. "Königin Inès de Castro hat ihnen beigebracht, dass man das Augenlicht verliert, wenn man zu weit zurückblickt." Die Marokkaner verstehen sich eher als Angehörige einer Kultur, weniger als Angehörige eines Landes. Armand Gatti weist auf einen Widerspruch hin: Seitdem es Marokko als unabhängiges Land gibt, schlagen zahlreiche Marokkaner den Weg des alten Kolonisatorenlandes ein. Die Italiener sind gespalten: Im Süden sucht man aus wirtschaftlichen Gründen seine Würde und im Norden leben diejenigen, die die Gesellschaftskämpfe der letzten Jahre unversehrt überstanden haben. Auch bei den Spaniern gibt es zwei Gruppen, die eine, die immer den Krieg in sich trägt, und die andere, die alles hinter sich lassen, und nach Spanien zurückkehren will. Die Polen dagegen, Angehörige eines Landes, das zahlreiche Male ausradiert wurde, suchen die französische Nationalität, um ihr Heim zu errichten. Der Algerier hat eine gespaltene Persönlichkeit, fährt Armand Gatti fort, zum einen verkörpert er den "Kameltreiber" von gestern, zum andern ist er Angehöriger einer ausländischen Gemeinschaft, die durch Erdöl reich wurde. Einfügen oder Heimkehr ins eigene Land, eines muss er aufgeben." Was den Türken von Montbéliard anbelangt, verkörpert er den idealen Gastarbeiter: "er arbeitet hart, fordert nichts und bricht den Arbeitstakt", diesen zum Mythos gewordenen Traum haben vor ihm zuerst die Jugoslawen und dann die Portugiesen gelebt. Der Film zerstört die Vorstellung einer homogenen Arbeiterschaft. Es gibt nur eine Kulturrealität. Es gibt kein politisches globales Gewissen, für sie heißt "die Welt ändern", privat erfolgreich sein.
Die georgische Gemeinschaft interessiert sich vor allem für die Geschichte. Auf einem Plakat ist folgende Botschaft zu lesen: "Georgier sein, heißt, gegen den Strom aller Ideologien schwimmen. Gegen den Strom des Marxismus/Leninismus". Die Befreiung des von der UdSSR annektierten Georgiens kann nur über den Arbeiterkampf erfolgen. Für die Georgier verweist der Sozialismus nicht auf den Fortschritt, sondern auf die Unterdrückung. Der Film legt den Schwerpunkt auf die soziale Realität der Einwanderer: "Es sind keine Menschen, sondern Facharbeiter, Hilfsarbeiter… Um wieder Mensch, Bürger, Patriot, Vater zu werden, müssen sie in ihr Land zurückkehren. Der Georgier sieht sich nicht in sein Land zurückkehren, er passt sich an die Sitten des Landes an und verschiebt, sagt eine Off-Stimme, die Rückkehr nach Georgien immer auf die kommende Woche. In den Handlungsablauf des Films fließt das Interesse der Gemeinschaft für die Geschichte ein. Wie der Titel bereits sagt: La difficulté pour un Géorgien d'aujourd'hui à ne pas être du 12e siècle. [Von der Schwierigkeit eines Georgiers von heute, nicht aus dem 12. Jahrhundert zu kommen]. Der Handlungsablauf besteht aus der Beschreibung einer historiographierten Schnitzerei, - Aufnahme für Aufnahme -, auf dem Pfeiler eines zerstörten Hauses, die das Epos Georgiens nachzeichnet. Diese Säule ist das Werk Charles, seit 37 Jahren Facharbeiter bei Peugeot und vorher Hirte in Südgeorgien. Der Mann erzählt die Geschichte seines Landes, indem er Figur für Figur innehält. Ganz oben an der Säule stehen die Georgier des 20. Jahrhunderts, gebeugt, unfrei, gekrümmt: "Das, was ihnen am teuersten war, wurde von einer langen Vergangenheit getragen und gleichzeitig von ihr niedergeschmettert".
Dominique Garrigues